Ein Steampunk Märchen

Das Märchen von den zertanzten Schuhen

Angelehnt an das gleichnamige Märchen der Gebrüder Grimm

Es war einmal ein Zeppelinkapitän, der liebte sein wunderbares Zeppelin “Ostseeburg”. Die Fahrgastzelle war gemütlich eingerichtet, es gab sogar einen Kamin und 2 Ohrensessel aus braunem Leder davor. Dicke Teppiche dämpften jedes Geräusch. Hier saß er am liebsten und las, umgeben nur von seinem Windhund und dem Ticken der Uhr.

Der Kapitän hatte drei Töchter. Die älteste, Irma, hatte einen kaum zu bändigenden Lockenkopf. Wie die Haare war ihr Charakter: sie war kaum zu bändigen. Sie störte sich an der Mode, den Reifröcken und Korsetten, und wollte am liebsten Piratenbraut werden. Auf einem Zeppelin, versteht sich.

Die mittlere Tochter, Katharina, war die schönste Frau, die man sich vorstellen konnte. Langes, güldenes Haar fiel ihr auf die schmalen Schultern, und jeder Mann schmolz, wenn sie ihn mit einem Blick aus ihren veilchenblauen Augen bedachte. Sie liebte es, sich schön anzuziehen und konnte stundenlang vor dem Spiegel einen Unterrock über den nächsten anprobieren.

Und dann war da noch Norma. Norma war der Bücherwurm der Familie. Sie wollte einfach alles wissen: Wie die Maschinen des Luftschiffs funktionierten, mit welchem Gas der Zeppelin gefüllt werden musste und wie die großen Ruder zu bedienen waren. Am liebsten saß sie, wenn die Maschinen des Zeppelins gewartet wurden, bei den Technikern und sah zu.

Der Kapitän war ein gütiger Mann, jedoch hütete er seine Töchter wie seine Augäpfel. Jeden Abend schloss er sie mit einem großen, verschnörkelten Schlüssel eigenhändig in ihrem Schlafgemach auf dem Zeppelin ein. “Zu viele Piraten hier”, brummte er dann. “Wer meine Töchter zur Frau bekommt, bestimme noch immer ich.” Dann kehrte er zu seinem Glas Absinth zurück, das in seinem gemütlichen Kaminzimmer auf ihn wartete.

Am nächsten Morgen fiel ihm beinahe sein Monokel aus dem Gesicht. Er musste entsetzt feststellen, dass die Schnürstiefeletten der 3 Töchter Löcher in den Sohlen hatten – sie waren durchgetanzt! Am nächsten Tag war das Unfassbare noch einmal geschehen. Wieder waren die Schuhe zertanzt! Was der Kapitän auch probierte, ob er Wachen vor der Tür postierte oder die alte Amme bei den Schwestern schlief, – nichts funktionierte, seine Töchter rissen nachts aus und er wusste nicht, wie das geschehen konnte.

“Das geht nicht mit rechten Dingen zu!” donnerte er und ließ verkünden, dass derjenige, der herausfände, wo seine Töchter in der Nacht tanzten, sich eine von ihnen zur Frau nehmen dürfe. Wer sich aber meldete und nach einer Nacht im Gemach der Mädchen immer noch nicht wisse, wo sie tanzten, der habe sein Leben verwirkt.

Der erste, der sich meldete, war ein Luftschiffpirat namens Jorge. Er wurde in den Schlafsaal geführt, wo auch sein Bett aufgestellt war. Er war ein gut aussehender Mann, und Irma warf ihm einen bedauernden Blick zu. Beinahe sofort übermannte ihn eine bleierne Schwere, und er fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen waren die Schuhe der Kapitänstöchter zertanzt, und der Pirat hatte sein Leben verwirkt.

Uns so erging es jedem, der es wagen wollte, das Geheimnis der Schönen herauszufinden.

Wie es der Zufall wollte, kam ein armer Steampunk-Techniker in das Königreich, der nichts bei sich trug außer eines hölzernen Rucksacks mit vielen Messingnieten, Hebeln und Kurbeln. „Mehr brauche ich nicht zu meinem Glück“, pflegte er zu sagen. Auf der Wanderung durch das Land kam ihm zu Ohren, dass der Zeppelinkapitän Techniker suchte, und da auch ein armer Techniker essen muss, begab er sich schnurstracks auf den Weg. Vielleicht konnte er sich hier verdingen?

Je länger seine Wanderung dauerte, desto mehr Geschichten hörte er über das wunderbare Luftschiff und auch, dass es ein Geheimnis gab um die 3 Töchter des Zeppelinkapitäns. Er lächelte in sich hinein: ein Job UND ein Geheimnis, wie gut, dass er sich auf den Weg gemacht hatte!

Als er beim Cheftechniker vorsprechen wollte, hörte er, wie Norma, die natürlich wieder bei den Technikern saß und versuchte, deren Geheimnisse zu ergründen, ihrer Schwester Katharina zuraunte: “Du bist heute Abend für unseren besonderen Met verantwortlich!”

Der Chefmechaniker folgte seinem Blick. Tiberius war schon lange in den Diensten des Zeppelinkapitäns und mochte Norma sehr. Und der arme Steampunk-Techniker gefiel ihm.

“Wirst du auch versuchen herauszufinden, wo die 3 Schwestern des nächtens tanzen?” fragte er ihn. “Ja, das will ich tun”, sagte der arme Steampunk-Techniker. Und da beschloss Tiberius, dem jungen Mann zu helfen.

“Hier, nimm das”, sagte er und gab dem armen Steampunk-Techniker eine kleine, messingfarbene Dose aus Metall. Es ragte ein Schlüssel zum Aufziehen aus der Dose. “Wenn du das Evanescerum mit dem Schlüssel aufziehst, wirst du unsichtbar. Benutze es, und folge den Töchtern. “ Der arme Steampunk-Techniker sah ihn dankbar an. “Und – trinke den warmen Met nicht, den sie dir anbieten werden!”

Evanescerum
Evanescerum

Der arme Steampunk-Techniker lächelte wissend, denn diesen Schluss hatte er auch schon gezogen. Er nickte und schüttelte Tiberius zum Dank die Hand.

Das Evanescerum studierte er den ganzen Nachmittag. Nun wäre er kein Steampunker gewesen, hätte er nicht sein Schweißgerät herausgeholt und angefangen zu basteln. Eine kleine Veränderung hier, eine Schraube da, und schon hatte er das Evanescerum lautlos gemacht. Dann schraubte er es mit einem Lächeln auf seinen Zylinder. Voilà! Zu guter Letzt baute er noch eine Vorrichtung, die Met aufsog, sobald er vorgab zu trinken.

Am Abend tat er also nur so, als würde er den Met trinken, fiel nach hinten über und begann lautstark zu schnarchen.

“Haha, er schläft”, spottete Irma, “zieht eure Schnürstiefel an, wir gehen tanzen!” “Noch so ein armer Tropf, der sein Leben wegwirft” , säuselte Katharina. Nur Norma sagte: „Ich habe ein merkwürdiges Gefühl. Ich denke, ich habe ihn schon einmal gesehen.“

„Paperlapapp“, sagte Irma und raffte ihre Röcke. Sie ging zu der Uhr, die an der Wand gegenüber ihres Bettes hing. Sie öffnete das Türchen zum Ziffernblatt und fragte ihre Schwestern: „Seid ihr fertig? Können wir losgehen?“

Die zwei anderen kamen zu ihr, und Irma drehte an der Zeigern der Uhr. Das Uhrwerk lief schneller und schneller und plötzlich erschien im Boden des Schlafsaals eine Luke aus blauem Licht.

Der arme Techniker glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Heimlich, still und leise nahm er seinen umgebauten Zylinder und zog ihn auf. Unsichtbar folgte er den Schwestern. Der Gang in die Tiefe summte und brummte, wie es das Uhrwerk getan hatte. In den Wänden des Ganges wirbelten in blauen Luftströmen Zahnrädchen und Uhrziffern umher. Was für ein Schauspiel! Der arme Steampunk Techniker versuchte gebannt, eines der Zahnräder aufzufangen. Dabei trat er Norma versehentlich auf das lange Kleid.

Sie erschrak. „Hilfe, jemand hält mich fest“, rief sie. „Papperlapapp“, sagte Irma „da ist nichts. Beeile Dich, wir wollen feiern gehen.“

Langsam atmete der arme Steampunk-Techniker aus. Das war gerade noch einmal gut gegangen! Und das Zahnrädchen befand sich in seiner Hosentasche.

Er trat hinaus auf eine grüne Wiese. Die Sonne schien und er konnte ein Schloss im Hintergrund sehen. Er sah sich um: Merkwürdige Gestalten liefen hier umher. Da, ein Hund, so groß wie ein Mensch mit einem riesigen Kopf und einem Schild in den Armen „Free Hugs“ kam auf ihn zu. Schnell machte er sich davon. Ein Mädchen mit roter Kapuze und einem Korb im Arm verteilte Äpfel. Er bekam große Augen, als sechs in weiß gekleidete Menschen mit Waffen in den Händen an ihm vorbeistürmten. Auch Steampunker sah er in kleinen Grüppchen, wunderte sich jedoch, dass diese immer wieder stehenblieben, um sich für einen Moment in verschiedene Posen zu begeben. Blitzlichter beleuchteten die Gesichter. „Danke für die Fotos“, rief ein Mann,“ ich lade sie dann später auf meine Facebookseite“. Wo war er?? Oder sollte er vielleicht fragen: wann?

Immerhin: Die 3 Schwestern tanzten ausgelassen vor einer großen, grell beleuchteten Bühne.

Die 3 Kapitänstöchter tanzten die ganze Nacht, und der arme Steampunk-Techniker hatte seine helle Freude dabei, ihnen zuzusehen. Diese bunte Welt gefiel auch ihm. Es schien, als könnten die Menschen hier sein, wie sie wollten. So verschieden sie auch waren, jeder schien so, wie er war, akzeptiert zu werden.

Als der Morgen graute, zog er seine Taschenuhr hervor und seufzte. Es war Zeit zurückzukehren. Dann lief er, noch immer unsichtbar, voraus, durch den Gang. Blaue Blitze zuckten, und der Gang schien zu flimmern. „Hier stimmt etwas nicht“, dachte er.

Er lief in den Schlafsaal, nahm seinen Zylinder ab und stellte sich schlafend.

Die 3 Schwestern kamen nach einiger Zeit atemlos durch den Gang gelaufen, der hinter ihnen zu kollabieren schien. „Was ist denn bloß mit dem Gang passiert?“, flüsterten sie aufgeregt. „Oh, nein“, sagte Katharina. „Stellt euch vor, wir könnten niemals mehr zurück!“

Sie hielten die Uhr an, deren Zeiger mit einem Ächzen aufhörten sich zu drehen, und verweilten dann kurz an seinem Bett. „Siehst du“, sagte Katharina zu Norma, ” er liegt ganz ruhig hier und schläft. Er hat nichts mit dem Flimmern im Gang zu tun.“

Am nächsten Tag fragte der Kapitän den Steampunk-Techniker, wo seine Töchter gewesen seien. Die Schuhe seien wieder zertanzt. Der aber lächelte nur und erzählte von der Uhr und dem Gang und dem Fest der komischen Gestalten. Als Beweis zog er das Zahnrädchen aus der Hosentasche, welches sich blau und schnell in seiner Hand drehte.

Der Kapitän konnte es nicht glauben. Er rief seine Töchter, und als diese das Zahnrädchen sahen, wussten sie, dass ihre Uhr nie wieder funktionieren würde.

„Was hast du getan?“, fragte Irma ihn wütend. Betreten wandte der arme Techniker seinen Kopf ab.

„Du hast das Rätsel gelöst”, sagt der Zeppelinkapitän. “Welche meiner Töchter möchtest du denn nun heiraten?“. Der arme Steampunk-Techniker musste nicht lange überlegen. „Gebt mir Norma“, sagte er, “sie ist genau so ein Technik – Fanatiker wie ich!“ Norma wurde rot und sah ihm in die Augen: “Ich will gerne Deine Frau werden. Aber eine Frage habe ich noch, bevor ich Dir meine Hand gebe.” “Nur zu”, lächelte der Steampunk Techniker und zwinkerte ihr mit beiden Augen zu.

“Wie heisst Du eigentlich? Ich kenne Deinen Namen gar nicht!” Nun war es an ihm rot zu werden. “Archibald”, sagte er.

Und so  lebten Norma und Archibald lange und zufrieden und bauten zusammen eine neue Uhr, mit der man durch die Zeit reisen kann. Das aber ist eine andere Geschichte.

Herzlichst Eure

Irma Madhatter

oder Dani von Steampunk Heaven